Die Märkte reagieren auf jede Veränderung beim russischen Gasangebot. Für Nervosität sorgt zudem die Entscheidung der Bundesnetzagentur, das Nord Stream 2-Zertifizierungsverfahren auszusetzen.
Ob denn Gazprom/Russland „schuld“ ist an den aktuellen Gaspreisturbulenzen – teilweise ist auch von einer Gaspreiskrise die Rede –, wird hitzig und kontrovers diskutiert. Übereinstimmung besteht über die Preisreaktionen, die alle Meldungen über Veränderungen beim russischen Gasangebot, den Gasflüssen nach Zentral- und Nordwesteuropa sowie den Status von Nord Stream 2 auslösen. Die Ankündigung des russischen Präsidenten Wladimir Putin am 27. Oktober, er habe Gazprom angewiesen, die Gaslieferungen nach Europa zu erhöhen, um von Gazprom genutzte Gasspeicher zu füllen, führte zu einem Preissturz an den Handelsmärkten. Innerhalb von zwei Tagen fiel der Day-Ahead Preis um rund 20,00 Euro/MWh. Als am Morgen des 16. November die Bundesnetzagentur mitteilte, den Zertifizierungsprozess für Nord Stream 2 auszusetzen, stieg der Preis innerhalb von Minuten von 79,00 auf 90 Euro/MWh. Dies zeigt die enorme Nervosität im Markt. Was denn die Entscheidung der BNetzA für die Inbetriebnahme der Nord Stream 2 bedeutet und ob denn wirklich ohne die Aussicht auf die Inbetriebnahme zusätzliche Mengen kommen, sind die beiden Themen dieses Artikels.
Die Aussetzung des Zertifizierungsprozesses kam für alle Marktteilnehmer überraschend. Der deutsche Abschnitt der Nord Stream unterliegt dem regulierten Netzzugang, so wie er in der EU-Gasrichtlinie und basierend auf diesen Vorgaben im Energiewirtschaftsgesetz festgelegt ist. Verbindungsleitungen zu Drittstaaten wie Nord Stream 2 sind seit einer Novelle der Richtlinie – und des EnWG – im Jahr 2019 in den regulierten Netzzugang einbezogen. Die Nord Stream 2 AG hat diese Novelle immer als „Lex Nord Stream“ bezeichnet, und in der Tat ist wohl lediglich diese Leitung von der geänderten Richtlinie betroffen.
Die Gesellschaft versucht mit allen möglichen Mitteln zu verhindern, dass die Pipeline der Regulierung unterliegt. Vor dem Europäischen Gericht ist noch ein Verfahren anhängig, in dem Nord Stream 2 die Nichtigkeit der Novelle erreichen will, da sie sich allein gegen diese eine Pipeline richte und damit diskriminierend sei. Bei der BNetzA wollte die Gesellschaft eine Freistellung vom regulierten Netzzugang erreichen. Die Novelle sieht dies für Verbindungsleitungen vor, die vor dem 23. Mai 2019 „fertiggestellt“ waren. Weder die BNetzA noch das OLG Düsseldorf haben sich dem Argument der Nord Stream 2 angeschlossen, dass auch eine Leitung, für die schon fast alle notwendigen Investitionen getätigt wurden und die damit „wirtschaftlich fertiggestellt“ ist, unter diese Regelung fällt. Als Rückfallposition hatte Nord Stream 2 im Juni dann doch einen Antrag auf Zertifizierung als Unabhängiger Netzbetreiber gestellt, eine Option, die das EnWG integrierten Energieunternehmen als Alternative zu einer eigentumsrechtlichen Trennung bietet. Am 8. September wurde das Verfahren formal eröffnet, nachdem alle notwendigen Unterlagen eingereicht waren.
Und dann begann das große Zählen und Rechnen unter Gashändlern. Gazprom hatte im Sommer angekündigt, 2021 noch 5,6 Milliarden m3 über die Nord Stream 2 liefern zu wollen. Später hatte das Unternehmen dann bekannt gegeben, ab November zu Lieferungen über Nord Stream 2 bereit zu sein. Dieser Zeitplan passt aber überhaupt nicht zu den Fristen des Zertifizierungsprozesses. Vier Monate hat die zuständige Beschlusskammer (BK) 7 Zeit für einen Entscheidungsentwurf, dann wird dieser nach Brüssel übersandt. Die EU-Kommission hat für eine Stellungnahme mindestens zwei Monate Zeit. Wenn sie die europäische Regulierungsagentur ACER um eine Stellungnahme bittet, dann verlängert sich die Frist um zwei Monate. Die Beschlusskammer soll die Stellungnahme der Kommission möglichst weitgehend berücksichtigen, muss dies aber nicht. Für die finale Entscheidung hat die Behörde weitere zwei Monate Zeit. Wenn alle beteiligten Institutionen ihre Mindestfristen ausschöpfen, dann ist eine Entscheidung erst am 8. Mai fällig.
Vor diesem Hintergrund kursierten im September ziemlich dichte Gerüchte, Nord Stream 2 könnte die Pipeline auch ohne Zertifizierung in Betrieb nehmen, damit Gazprom schon 2021 liefern kann. Politisch wäre dies wohl ein verheerendes Signal. Die Option soll ernsthaft erwogen worden sein, sagen Quellen, die es wissen könnten. Aber derzeit scheint sie vom Tisch. In dem Zertifizierungsverfahren hat dann die BK 7 bei einer Prüfung der Voraussetzungen festgestellt, dass eine Gesellschaft mit einer deutschen Rechtsform zwingende Voraussetzung für einen Unabhängigen Netzbetreiber ist. Nord Stream 2, mit Sitz im schweizerischen Zug und eine AG nach Schweizer Recht, erfüllt die Voraussetzungen nicht. Dies hat wohl auch Nord Stream 2 verstanden und der Behörde zugesagt, eine Gesellschaft in Deutschland zu gründen. Diese muss in der Lage sein, den Netzbetrieb durchzuführen und wird auch Eigentümer an dem deutschen Abschnitt. „Ein Briefkasten reicht nicht“, wurde aus dem Umfeld der BNetzA betont. Der deutsche Netzbetreiber muss auch unabhängig von der Muttergesellschaft in der Schweiz sein.
Wie lange die Organisation einer solchen Gesellschaft dauern wird, ist nicht klar. Nord Stream 2 äußert sich dazu nicht. Aus dem Umfeld von Fernleitungsnetzbetreibern wird auf die schlank aufgestellten Betreibergesellschaften für die OPAL und die NEL verwiesen, die viele Dienstleistungen bei Gascade beschaffen. Ob dies ein Modell für den neuen Netzbetreiber sein kann und dessen Organisation, wie Optimisten sagen, Mitte Januar abgeschlossen ist, bleibt abzuwarten. Erst wenn Nord Stream alle notwendigen Unterlagen eingereicht hat, wird das Zertifizierungsverfahren wieder aufgenommen. Die vier Monate starten nicht von vorne, das Verfahren wird da wieder eingesetzt, wo es unterbrochen wurde. BK 7 hat dann noch knapp zwei Monate Zeit für den Entscheidungsentwurf. Die polnische Gasgesellschaft PGNiG und die ukrainische Gasgesellschaft Naftogaz Ukraine werden das Verfahren sehr genau verfolgen. Beide Unternehmen sind beigeladen und können Rechtsmittel gegen eine Entscheidung in Deutschland einlegen.
Warum reagieren die Preise so stark auf die Irrungen und Wirrungen des Zertifizierungsverfahrens? Dringend benötigt wird die Kapazität nicht, auf den beiden anderen Transitrouten stehen genügend Kapazitäten zur Verfügung. „Nord Stream 2 hat ein hohes ‚bearishes‘ Potenzial“, sagte ein Händler dem EID. Würde die Pipeline in Betrieb gehen, dann fallen die Preise stark, ergänzte er. Viele Marktteilnehmer halten das Potenzial offensichtlich eh für zu hoch und haben „Short-Positionen“ aufgebaut, berichten mehrere Marktteilnehmer. Jede Nachricht, die eine Einschätzung fallender Preise in Frage stellt, führt dann sofort zu Gegenbewegungen. Dazu kommt aber ein wenig nachvollziehbares Buchungs- und Lieferverhalten Gazproms auf zwei von drei Transitrouten:
Durch die Nord Stream fließen konstant Mengen, die Pipeline ist voll ausgelastet. Auf der Yamal-Nord, der Transitroute durch Belarus und Polen, sind seit August die Buchungen und Gasflüsse extrem schwankend. Die Pipeline hat an ihrem Endpunkt, dem deutsch-polnischen Grenzübergangspunkt Mallnow eine Kapazität von rund 930 GWh/Tag. Bis Ende Juli hat Gazprom konstant um die 850 GWh/Tag transportiert. Im August und September schwanken die Mengen zwischen rund 200 und 870 GWh/Tag. Seit Oktober sind die Buchungen auf 320 GWh/Tag reduziert, die Flüsse liegen zeitweise niedriger.
Der Transit durch die Ukraine in Richtung Slowakei war seit Beginn des Jahres von rund 1.300 auf 700 GWh/Tag reduziert, da die Vertragsmenge im Rahmen des mittelfristigen Transportvertrags zwischen Gazprom und Naftogaz Ukraine reduziert wurde. Im Laufe des Jahres stiegen die Mengen durch zusätzliche Buchungen wieder etwas an und erreichten im November am ukrainisch-slowakischen Grenzübergangspunkt Velke Kapuzny ein Niveau von rund 1.000 GWh/Tag.
Damit ist der Bericht bei der Ankündigung Putins angelangt, die Flüsse nach Nordwesteuropa zu erhöhen, um die Speicher Gazproms in Europa wieder zu befüllen. Der Gazprom Vorstandsvorsitzende Alexey Miller präzisierte, dies könnte am 8. November der Fall sein, nachdem die Befüllung der Speicher in Russland abgeschlossen wurde. Am 8. November passierte erst einmal gar nichts, beziehungsweise was noch absurder war, am 6. November sank der Gasfluss von Ost nach West in Mallnow auf null. Da an den Tagen polnische Marktteilnehmer Gas von West nach Ost transportierten – dies ist technisch möglich –, drehte sich der Gasfluss sogar um.
Dies produzierte viele Schlagzeilen und ohne Ende Anfragen bei dem Fernleitungsnetzbetreiber Gascade, der dort das System betreibt. Nominierungen von Deutschland nach Polen kommen regelmäßig vor. In der Regel sieht man sie nicht im Gasfluss, weil der Fluss von Ost nach West höher ist. Dies war am 6. und 7. November nicht der Fall. Auch am 8. November passierte im Grunde nichts, außer steigenden Preisen an den Handelsmärkten. Ab dem 9. November stiegen die Mengen sowohl in Mallnow als auch in Velke Kapuzany, und Gazprom speicherte kleinere Mengen in Speicher, die das Unternehmen vermutlich exklusiv nutzt (Rheden, einen Teil des Speichers Haidach, Katharina) ein. Die Abbildung auf Seite 2 zeigt, dass die Mengen immer noch unter den Mengen im ersten Halbjahr 2021 liegen. Von einem deutlichen Anstieg der Mengen kann nicht die Rede sein. Am 15. November kam dann die nächste Überraschung: An dem Tag wurden die festen Kapazitäten für die verschiedenen Verbindungspunkte zwischen den Ländern versteigert. In Mallnow hat Gazprom für Dezember keine Kapazität gebucht. In Velke Kapuzany wurden 17,45 Millionen m3/Tag (180 GWh) zusätzlich gebucht. Sollte über Mallnow im Dezember kein Gas fließen, werden vermutlich die Preise steigen. Solange Nord Stream 2 nicht in Betrieb ist und in jedem Monat das Rätselraten über russische Buchungen und Gasflüsse neu beginnt, werden die Preise sehr volatil bleiben. Das heißt, vermutlich den ganzen Winter. Je mehr Zeit allerdings ohne eine große Kältewelle ins Land geht, desto mehr werden Händler trotzdem auf sinkende Preise setzen.