Es wird beim Gas nicht so eng wie im letzten Winter, aber Europa ist nicht über den Berg, so unisono die meisten Analysten. Hilft aktuell gar, dass Industrien abwandern? Im Fokus steht nach wie vor LNG.
Das Winterhalbjahr hat begonnen, die Frage möglicher Risiken für die Gasversorgung wird damit wieder drängender. Die grundlegende Einschätzung im Grunde aller Analysten lautet: Es wird nicht so eng wie im letzten Winter, aber Europa ist noch nicht über den Berg. „Volle Speicher sind keine Garantie gegen Preisausschläge im Winter“, fasste die Internationale Energie-Agentur (IEA) ihre Einschätzung in dem Mitte Oktober erschienenen mittelfristigen Gasausblick 2023 zusammen. Auch die Initiative Energien Speichern (INES), der Verband der Speicherbetreiber, bleibt in seiner im Oktober aktualisierten Analyse bei der unveränderten Lageeinschätzung: Wird der Winter kalt (so wie der Winter 2021 in der EU), dann fehlen im Januar, Februar und März Mengen, wenn die Nachfrage nicht geringer ausfällt als von INES in den Szenarien unterstellt. Die in Deutschland und Europa mittlerweile fast vollständig gefüllten Speicher und der warme Oktober mit weiteren Einspeicherungen helfen dann auch nicht. Warum ist das so? Im Grunde ist es ganz banal: Europa fehlen rund 1.400 TWh russisches Erdgas, die vor dem weitgehenden Stopp der Lieferungen durch die Ostsee (Nord Stream), Polen (Jamal Nord) und die Ukraine nach Zentral- und Nordwesteuropa geliefert wurden. Nur durch die Ukraine kommen noch Restmengen, worauf noch zurückzukommen sein wird. Der Think Tank Bruegel hat die veränderte Mengenbilanz in seiner Analyse zur europäischen Versorgungssicherheit im kommenden Winter schön dargestellt (siehe Abbildung).
Die wegfallenden russischen Mengen sind vor allem durch zwei Effekte kompensiert worden:
Zusätzliche LNG-Lieferungen (in der Grafik als „andere LNG“ bezeichnet) und eine starke Reduzierung der Nachfrage. Damit sind im Grunde auch schon die Risiken für das laufende Jahr genannt. Da russisches Gas nicht wieder zur Verfügung stehen wird, muss auch in diesem Winter das Gleichgewicht über eine entsprechend reduzierte Nachfrage und durch ein ausreichendes LNG-Angebot hergestellt werden. Das ist aber nicht garantiert, und warum dies nicht garantiert ist, soll im Folgenden erläutert werden.
Ein Punkt vorweg: Die Gasbilanz könnte in diesem Winter zudem noch dadurch belastet werden, dass die russischen Mengen, die derzeit noch nach Europa geliefert werden, auch noch wegfallen. Durch die Ukraine sind 2023 bisher noch rund 110 TWh Erdgas in Richtung Zentraleuropa geflossen. Über die Turkstream-Pipeline durch das Schwarze Meer transportiert Russland Gas in die Türkei und weiter nach Bulgarien. Über diese Route sind 2023 bisher ebenfalls rund 110 TWh russisches Gas geflossen. Serbien und Ungarn sind die wesentlichen Abnehmerländer. Im Oktober hatte Bulgarien eine neue Transitsteuer auf russisches Gas von rund 10,00 Euro/MWh erhoben. In Serbien und Ungarn besteht Sorge, dass russisches Gas nicht mehr wettbewerbsfähig ist. Die Episode zeigt, dass die Stabilität der russischen Mengen aus verschiedenen Gründen in der Tat gefährdet sein kann.
Nun aber zur Gasbilanz und zuerst zur Nachfrage. Ein wesentlicher Faktor für den Nachfragerückgang – insbesondere im Haushaltskundensegment – war der milde Winter. Der temperaturbedingte Anteil an der niedrigen Nachfrage ist nicht wirklich ermittelbar, aber bei einem kalten Winter dürfte die Nachfrage der Haushaltskunden deutlich höher als im vergangenen Winter liegen. Zudem dürften auch die strukturellen Einsparungen eher geringer sein als im vergangenen Jahr. Die Erdgaspreise sind weiter hoch, aber deutlich niedriger als zu Beginn des letzten Winters. Zudem dürfte ein gewisser Gewöhnungseffekt eingetreten sein. Auch als Party-Thema dürfte sich Gas sparen abgenutzt haben. Im Industriesektor ist die Nachfrage weniger wetterabhängig. Die Preise und die Konjunktur sind vor allem für die Nachfrage verantwortlich. Zumindest vereinzelt sind Industrien aus Deutschland abgewandert. Eine Verlagerung von Ammoniakproduktion durch BASF ist ein häufig zitiertes Beispiel. Die industrielle Nachfrage wird – darin sind sich alle Beobachter einig – nicht das Vorkrisenniveau erreichen. Aber im dritten Quartal dieses Jahres ist sie im Vergleich zum Vorjahreszeitraum wieder gestiegen, so die Zahlen der IEA.
Kaltes Winterwetter wird zu deutlich steigenden Gaspreisen führen, Händler halten auch ein Niveau von 100,00 Euro/MWh und mehr dann nicht für ausgeschlossen. Kaltes Wetter und hohe Preise werden zudem zu einer starken Entleerung der Speicher führen. Gegen Ende des Winters könnten dann Situationen auftreten, in denen die Flexibilität aus Speichern fehlt, um reagieren zu können. Ein solches Szenario sieht die IEA vor allem für den Fall des Wegfalls der russischen Restmengen und eines relativ schlechten LNG-Angebots.
Womit wir beim LNG-Angebot wären. Die Zunahme der LNG-Lieferungen nach Europa ist nicht, oder nur zum kleinen Teil einem zusätzlichen Angebot durch zusätzliche Verflüssigungskapazität in den Exportländern zu verdanken. Die Angebotsseite war zudem dadurch beschränkt, dass Freeport, das größte Export-Terminal in den USA monatelang nicht in Betrieb war. Europäische Abnehmer haben schlicht andere Unternehmen überboten. Die Preise an der TTF, dem europäischen Leitmarkt, waren höher als an den asiatischen Märkten – traditionell der größte LNG-Markt. Sehr geholfen hat die schwache chinesische Nachfrage aufgrund der Null-Covid Politik des Landes. Chinesische LNG-Käufer haben Schiffe nach Europa umgeleitet, da dies für sie profitabel war. Es ist zudem kein Zufall, dass rund die Hälfte des LNGs für Europa aus den USA kommt. In den USA verkaufen die Terminalbetreiber LNG Free-on-Board (FOB), der Käufer entscheidet, wohin er das LNG liefert. Der höchste Preis ist dabei ein sehr starkes Argument. Im Moment ist der Markt fundamental relativ entspannt, aber die Reaktion der Preise an den Handelsmärkten auf Streikandrohungen in australischen LNG-Terminals und die Krise im Nahen Osten im September und Oktober zeigen, wie sensibel der Markt auf mögliche Angebotseinschränkungen reagiert. Der Day-Ahead-Preis und der Preis für den Frontmonat November stiegen in der Spitze auf über 50,00 Euro/MWh. Auch in diesem Winter wird LNG vor allem in einem Verdrängungswettbewerb gekauft werden, neue Kapazität geht kaum in Betrieb. Zusätzliches Angebot wird in größerem Umfang erst ab der zweiten Hälfte 2024 verfügbar sein. Dann werden die ersten US-Projekte in Betrieb gehen, für die nach Beginn des Ukraine-Krieges Investitionsentscheidungen getroffen wurden.
Helfen zusätzliche LNG-Terminalkapazitäten in Deutschland? Im Moment sind drei schwimmende LNG-Terminals (FSRUs) in Betrieb, in Wilhelmshaven, Brunsbüttel und Lubmin. Voll ausgelastet ist nur das Terminal in Wilhelmshaven. In Brunsbüttel erlaubt die aktuelle Netzanbindung nur eine teilweise Nutzung der Terminalkapazität und in Lubmin ist der Shuttle-Betrieb zwischen einer Speichereinheit auf Reede in der Ostsee und der Regasifizierungseinheit im Hafen von Lubmin offensichtlich schwierig. Weniger als 20 Prozent der Kapazität werden in der Regel genutzt. Bisher liegt der Anteil der Importe über die deutschen LNG-Terminals an den Gesamtimporten bei maximal 10 Prozent. In diesem Winter sollen mit einem zweiten FSRU in Wilhelmshaven, einem FSRU in Stade und einem zweiten FSRU in Lubmin zusätzliche Importkapazitäten installiert werden. Zudem soll in Brunsbüttel ab Ende des Jahres die ETL 180 in Betrieb gehen, eine Anbindungsleitung für das Terminal, die eine volle Nutzung der Kapazität des Terminals ermöglicht. Damit würde die Kapazität um rund 20 Milliarden m3/a wachsen. Allerdings ist bei einigen der Terminals unklar, ob und wann sie in diesem Winter wirklich zur Verfügung stehen. Dies gilt zum Beispiel für das Terminal in Lubmin, das in den Hafen Mukran auf Rügen verlegt werden soll. Der lokale Widerstand einiger Akteure ist heftig und wird insbesondere von der Deutschen Umwelthilfe (DUH) unterstützt. Dies könnte die Genehmigungsverfahren verzögern, auch wenn der Betreiber Deutsche ReGas optimistisch ist. Zudem verbessern zusätzliche Importkapazitäten zwar die Infrastruktur-Situation und erhöhen die Optionen, LNG nach Deutschland bzw. Europa zu bringen, aber sie sind dadurch noch nicht ausgelastet. Dies hängt dann von der Verfügbarkeit von LNG ab.
Die Situation ist komfortabler als im vergangenen Winter, aber es verbleiben Risiken. Sollte es nicht nur zu hohen Preisen, sondern einer echten Gasmangellage kommen, ist zudem die Bundesnetzagentur besser präpariert. Die eigens eingerichtete Sicherheitsplattform, auf der alle 1.700 Industriekunden mit einer Mindestanschlussleistung von 10 MW für eine Mengenreduktion relevante Daten zu hinterlegen haben, ist in Betrieb, auch die Daten von Netz- und Speicherbetreibern sowie den Speichernutzern werden registriert. Über die Plattform wird die BNetzA im Ernstfall auch über die Reduktion der Gasnachfrage für Industrieunternehmen verfügen. Die Dokumente sind entwickelt. Zudem verfügt die Behörde über eine Liste mit den Industrien, die aufgrund ihrer besonderen Bedeutung schützenswert sind und bei denen keine Reduzierung des Gasverbrauchs erfolgen soll. Am 21. September haben die Behörde, Speicher- und Netzbetreiber, Speichernutzer und Industrieunternehmen sowie Vertreter der Bundesländer geprobt. Es ist zumindest nicht zu hören, dass diese Übung furchtbar schief gegangen ist.