„Im Jahr 2023 gab es in der Energiewende mehr Licht als Schatten. Doch mit dem erfreulichen Fortschritt wird zunehmend offensichtlich, dass wir mehr dafür tun müssen, die Transformationskosten in den Griff zu bekommen.“ Ein Gastbeitrag für den EID von 50Hertz-Chef Stefan Kapferer.
Zeitenwende in der Energiewende, das bedeutet mehr Tempo und mehr volkswirtschaftliche Effizienz. Bei der Beschleunigung der Genehmigungsverfahren ist im letzten und auch in diesem Jahr viel passiert. Die aktuelle Bundesregierung ist das Thema mit viel Pragmatismus angegangen. Und auch wenn die gesetzlichen Maßnahmen noch nicht ihre volle Wirkung entfalten konnten, zeichnet sich beim Ausbau der Erneuerbaren und Netze ein positiver Trend ab. 50Hertz etwa konnte allein in den ersten zehn Monaten dieses Jahres über einhundert Kilometer neue Leitungen realisieren. Für fast 250 Kilometer neue Leitungen haben wir in diesem Jahr eine Baugenehmigung erhalten und mehr als 1.300 Kilometer Leitung an Land und auf See befinden sich aktuell im Genehmigungsverfahren.
Auch bei den Erneuerbaren Energien geht es voran. Bei den Windenergieanlagen an Land wurden bis Anfang November fast drei Gigawatt Leistung neu errichtet. Das ist zwar immer noch weit entfernt von den Rekordzubaujahren von 2014 bis 2017, in denen jährlich um die vier bis fünf Gigawatt Windleistung neu errichtet wurden. Es ist aber im Vergleich zum Jahr 2022 doch ein erheblicher Fortschritt. Hier lag die neu installierte Leistung für das gesamte Jahr unter 2,5 Gigawatt. Noch besser sieht es bei der Photovoltaik aus. Hier wird 2023 ein klares Rekordjahr werden. Bereits bis Anfang November wurde über zwölf Gigawatt neue PV-Leistung in Betrieb genommen. Der vorherige Ausbaurekord lag bei unter acht Gigawatt.
Das sind gute Nachrichten, auch mit Blick auf den anstehenden Winter. Der jüngste Entso-E-Winter-Outlook zeigt, dass wir in Europa für diesen Winter erheblich besser als für den vergangenen aufgestellt sind. Dass die Lage in Europa erheblich stabiler als im Vorjahr ist, liegt zum einen an den aktuell guten Füllständen der Gasspeicher. Einen wichtigen Beitrag leistet zum anderen hierbei aber auch ein signifikanter Zubau erneuerbaren Energien. Diese guten Nachrichten belegen noch einmal, dass es bei der Energiewende zwar auf den Ausbau vor Ort ankommt, dass aber eine klimaneutrale und resiliente Energieversorgung ein europäisches Projekt ist.
Alles im grünen Bereich also? In den Sozialwissenschaften gibt es das sogenannte Tocqueville-Paradoxon. Benannt nach dem französischen Gelehrten Alexis de Tocqueville, der es Mitte des 18 Jahrhunderts formulierte, besagt es im Kern: Abnehmende Ungleichheit sorgt nicht für mehr Zufriedenheit, sondern dafür, dass verbleibende kleinere Benachteiligungen stärker wahrgenommen werden und Unzufriedenheit steigt. Ich habe den Eindruck, dass sich dieses Paradoxon auch auf unseren Umgang der Energiewende übertragen lässt. Wir haben in den letzten Jahrzehnten immer mehr verschiedenen Befindlichkeiten beim Umbau unserer Energieinfrastrukturen immer mehr Raum eingeräumt: Denkmalschutz, Archäologie, Erdkabel statt Freileitungen, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Das Problem: Diese Wohlfühlprojekte kosten viel Geld. Für mehr Akzeptanz für Energiewendeprojekte und damit für mehr Klimaschutz haben sie allerdings nur begrenzt gesorgt. Im Gegenteil: Befindlichkeiten gibt es nach wie vor und es besteht die große Gefahr, dass uns die Kosten bei der Energiewende aus dem Ruder laufen und damit die Akzeptanz für die Energiewende insgesamt sinkt. Spätestens mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum Klima- und Transformationsfonds wurde nun wirklich jedem klar, dass die finanziellen Mittel begrenzt sind und dass es eine neue Politik im Umgang mit den Transformationskosten geben muss.
Denn auch wenn die Zustimmungswerte an sich für die Energiewende erfreulicherweise sehr hoch sind und – das zeigen auch jüngste Meinungsforschungen – ein breiter gesellschaftlicher Konsens über die Herausforderungen besteht, die der Klimawandel mit sich bringt, hat die intensive Debatte um das Gebäudeenergiegesetz in diesem Jahr doch deutlich gezeigt: Akzeptanz ist ein fragiles Gebilde. Im Jahr 2023 befinden wir uns daher auch bei der Energiewende in einer Zeitenwende. Es wird vor dem Hintergrund einer angespannten ökonomischen Lage zunehmend darauf ankommen, die Transformationskosten sehr genau im Blick zu behalten. Um es deutlich zu sagen: Wenn wir Klimaneutralität bis 2045 erreichen wollen, müssen wir im Bereich der Energiewende auf alles, was nicht auf dieses Ziel einzahlt, verzichten. Die Zeiten des „Wünsch dir was“ sind vorbei. Dazu gehört auch eine ehrliche politische Kommunikation, die sagt: Die Transformation hin zu Klimaneutralität ohne Auswirkungen auf den Alltag der Menschen wird es nicht geben.