Mit dem Sondierungspapier sind für die Ampel-Koalitionsgespräche energiepolitisch bereits recht konkrete Pflöcke eingeschlagen. Bei der H2-Farbenlehre und E-Fuels scheint noch Spielraum.
Nach mittlerweile 30 Jahren „auf Kurs Energiewende“ stehe Deutschland noch immer auf den untersten Stufen einer langen Treppe, legte Gerald Linke, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Vereins des Gas- und Wasserfaches (DVGW), die Latte für die anlaufenden Ampel-Koalitionsgespräche von SPD, Grünen und FDP nach der jüngst erzielten Sondierungs-Übereinkunft hoch. Ungeachtet dessen begrüßte der DVGW-Chef weitgehend im Einklang mit den weiteren für den Energiesektor relevanten Verbänden das 10 Punkte umfassende Sondierungspapier, das – mittlerweile von allen Parteien gremientechnisch abgenickt – die Grundlage für die Koalitionsverhandlungen auch in energiepolitischer Sicht bildet. Die Vor-Übereinkunft lasse „auf den erforderlichen Aufbruch in der Klima- und Energiepolitik und auf ein Jahrzehnt der Zukunftsinvestitionen in Digitalisierung und Infrastrukturen hoffen“, kommentierte etwa VKU-Hauptgeschäftsführer Ingbert Liebing.
Diese Erwartung kann sich dabei auf eine bereits recht detaillierte Sondierungs-Agenda stützen. Das im Papier bekräftigte Bekenntnis zum Pariser 1,5 Grad-Ziel etwa wird im Bereich des Erneuerbaren-Ausbaus bereits konkret unterfüttert von einer möglichen Solarausbauvorgabe für „alle geeigneten Dächer“, wie es heißt – verpflichtend für Gewerbe-Neubauten und als „Regel“-Fall bei privaten Neubauten. Der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes Solarwirtschaft, Carsten Körnig, der das Papier mit Blick auf solche Signale als Auftakt für eine „Klimaschutz- und Erneuerbaren-Mission“ bezeichnete, mahnt indes sogleich, nun müsse alsbald mit einem „attraktiven Investitionsrahmen für die Solarenergie“ und klar definierten, angemessenen Ausbauzielen nachgelegt werden. Auch ist im Papier bereits der „beschleunigte Ausstieg aus der Kohleverstromung“ ausformuliert – „idealerweise schon bis 2030“, wie es heißt. Dazu sollen auch – H2-fähige – neue „moderne Gaskraftwerke“ gebaut werden. Erreichen will man das, indem man die „im Kohleausstiegsgesetz vorgesehenen Überprüfungsschritte bereits in die 20. Legislaturperiode“ vorzieht. Konkrete Punkte im Bereich der Windenergie sind die Zuweisung von 2 Prozent der Landesfläche als Zubaufläche für Onshore-Anlagen, was der Windverband BWE freudig begrüßt. Ebenso „wichtig und richtig“ sei das im Papier formulierte Vorhaben, Kommunen stärker davon profitieren zu lassen, wenn sie Flächen für die Windenergie bereitstellen. Auch hier folgt indes die Mahnung, nun gelte es, „die hehren Formulierungen in tatsächliche Politik zu gießen“, so BWE-Präsident Hermann Albers. Als weiteren zentralen Punkt belegt das Papier die Absicht der Sondierer, die Finanzierung der EEG-Umlage über den Strompreis „so schnell wie möglich“ zu beenden. Im Verkehrsbereich verfolgen SPD, Grüne und FDP zudem das Ziel, „in Europa 2035 nur noch CO2-neutrale Fahrzeuge“ zuzulassen – was sich hierzulande schon früher auswirken würde. Außerhalb des Systems der Flottengrenzwerte sollen „nachweisbar nur mit E-Fuels betankbare Fahrzeuge“ neu zulassungsfähig seien.
Eingehend setzte sich mit den Implikationen der Sondierungsergebnisse speziell mit Blick auf die Gaswirtschaft DVGW-Chef Linke auseinander, bzw. machte sich für deren ausreichende Berücksichtigung in einem künftigen Energiesystem stark. „Von den 2.500 TWh Endenergie haben wir gerade einmal 250 TWh an Erneuerbaren im Stromsektor.“ Allein mit einer Stromlösung sei das Ziel nicht zu erreichen – um die Molekülwelt zu dekarbonisieren, spielten auch Wasserstoff und E-Fuels eine wesentliche Rolle, so Linke.
Beide Begriffe finde man im Sondierungspapier wieder, und da darin von keiner „Farbendiskussion“ zu lesen sei, könne angenommen werden, dass es wohl nicht ausschließlich um grünen Wasserstoff gehe, sondern erst einmal auch blauer und türkiser mitgedacht sei, so Linke nach Abschluss der Sondierungen auf einer Veranstaltung des Forums für Zukunftsenergien. Auch werde darin stärker auf den EU-Binnenmarkt als Bilanzkreis für die Wasserstoffproduktion abgehoben. „Wir wissen, dass wir in Europa hinreichend viel Wasserstoff selber herstellen können“, so der Verbandschef. Studien gingen von rund 4.000 TWh H2 in 2050 aus, „was der heutigen Erdgasmenge entspricht“. Aber man werde wohl nicht um eine erneute Diskussion über CCS herumkommen.
Für die Nutzung der bestehenden europäischen Gasinfrastruktur für zukünftige klimaneutrale Gase – sowohl als Backbones als auch im Verteilnetz – zeigt sich nach Einschätzung von Linke auch in den Sondierungspapieren ein klares Bekenntnis. Die Umstellungskosten der Infrastruktur auf klimaneutrale Gase und H2 hält Linke für überschaubar. Er rechnet hier mit 45 Milliarden Euro, „das ist kaum mehr als eine Jahresinvestition in den Klimaschutz“, und mache nur ein Zehntel dessen aus, was für einen Neubau anfallen würde. Getragen werden sollten die Kosten aus Linkes Sicht von den heutigen Erdgasnutzern, denn sie seien auch die potenziellen Kunden von morgen, appellierte er an die künftigen Verantwortungsträger. „Zudem können wir nicht durch die Verteilnetze den Wasserstoff selektiv an die Industriekunden bringen, vorbei an den 19 Millionen Haushalten, die an demselben Netz hängen.“ Linke beziffert die Transportkosten pro 1.000 Kilometer auf 1 Cent pro kWh.
Um das Hochfahren der Erzeugung von klimaneutralem Gas anzukurbeln, schlägt der DVGW-Mann vor, einen bestimmten Anteil als Gas-Mix gesetzlich festzulegen. „Wir kennen so etwas von der Stromseite – bis 2030 65 Prozent erneuerbaren Strom zu realisieren.“ Auch dieser Gedanke stehe so ähnlich im Sondierungspapier. Für die Industrie wäre dann klar, was zu liefern sei.
Dennoch werde es in der Anfangsphase schwer werden, Investitionen in die Wasserstoffproduktion anzukurbeln. Helfen könne dabei etwa ein Fonds, der sich aus der CO2-Bepreisung speisen lasse. Und da klimaneutrale Gase dem DVGW zufolge auch Einzug in den Wärmemarkt halten sollen, müsse ebenfalls der Endanwender in den Blick genommen werden. Linke wünscht sich, dass derjenige, der klimaneutrale Gase einsetzen wolle, quasi einen Klimabonus erhält.
Und auch auf Technologieseite seien Benefits denkbar. Hier kann Linke sich durchaus vorstellen, dass für den Kauf moderner Heizsysteme, von denen die ersten Modelle voraussichtlich schon ab dem kommenden Jahr vollständig H2-ready marktfähig würden, ein „Sprinter-Bonus“ gezahlt würde – ähnlich wie die ehemalige Abwrackprämie für alte Autos.
Damit ließe sich zudem schnell Tempo bei der Erhöhung der Sanierungsrate von Gebäuden machen, von der auch im Sondierungspapier der drei Parteien gesprochen werde. „Mit diesem Schritt hätten wir zudem ein Paradebeispiel für Zukunftsinvestitionen made in Germany, denn unsere Kesselhersteller haben in Europa einen Marktanteil von rund 80 Prozent.“
Bereits eine 20-prozentige Beimischung von klimaneutralen Gasen im Wärmemarkt hält Linke schon für sehr effektiv. „20 Prozent des Gasabsatzes zu kompensieren, das sind etwa 200 TWh – das ist praktisch die Menge an erneuerbarer Energie, die wir heute haben.“ Überhaupt hält er den Wärmemarkt für denjenigen Sektor, der heute bereits mit klimaneutralen Gasen starten könnte, würden schon große Mengen Wasserstoff bereitstehen. In der Stahlindustrie seien noch keine Werke entsprechend umgerüstet, in der Mobilität mangele es an Tankstellen, und zudem würden für diese Sektoren meist die Strukturkosten unter den Tisch gekehrt. „Wenn man also auf die Systemkosten schaut, dann schneidet der Wärmemarkt außerordentlich gut ab“, unterstreicht Linke. Unterm Strich: Über die in den Sondierungspassagen umrissene Themensetzung, die für die kommende Legislatur nun ins Auge gefasst worden ist, zeigt sich der Verbandschef erst einmal zufrieden.
Bleibt für die Koalitionsverhandlungen das ‚energieaußenpolitische‘ Thema Nord Stream 2, das in den Sondierungen ausgeklammert worden war. In den Koalitionsverhandlungen dürfte es indes ebenfalls keine entscheidende Rolle spielen. SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz – seine Partei ist tendenziell für das Projekt, FDP und Grüne dagegen – hatte sich jüngst auf den Standpunkt gestellt, die Betriebsgenehmigung sei nun ein rein behördlicher Vorgang. Grünen-Spitzenvertreterin Annalena Baerbock indes sprach sich unmittelbar vor Beginn der Koalitionsverhandlungen nochmals gegen die Inbetriebnahme aus und warf der russischen Seite im Zusammenhang mit steigenden Energiepreisen „Erpressung“ vor. Sie argumentierte aber letztlich ebenfalls nicht klimapolitisch, sondern ‚nur‘ unter dem juristischen Aspekt des EU-Unbundlings. „Solange das ein und derselbe Konzern ist, darf die Betriebserlaubnis nicht erteilt werden“, ließ sie in einem Zeitungs-Interview erkennen, dass die Frage als Politikum wohl umschifft werden kann.