Als „Träumerei“ hatte zuletzt Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) ein Vorziehen des eigentlich für 2038 geplanten Kohleausstiegs auf das Jahr 2030 bezeichnet – ein kontrovers aufgenommener Schwenk, der von der Branche allerdings nicht allein als erneute Verunsicherung über den Ausstiegsfahrplan wahrgenommen wird, wie sich auf dem jüngsten „dena Energiewende Kongress 2023“ in Berlin zeigte. Im Gegenteil, gewissermaßen als Weckruf für die Frage der Planungssicherheit für eigentlich bis 2030 zu schaffende neue wasserstofffähige Gaskraftwerke deutete BDEW-Spitzenvertreterin Kerstin Andreae Lindners Äußerungen. Der Finanzminister selbst hatte eingeschränkt, seine Zweifel bezögen sich auf eine Situation, in der nicht klar sei, ob Energie „verfügbar und bezahlbar“ sei.
Der Zeitpunkt des Kohlausstiegs, so Andreae, hänge also im Grunde nicht an der Kohle, sondern an der Frage der Versorgungsicherheit insbesondere durch zugebaute Kraftwerke. Sie verwies dabei darauf, dass das Vorziehen des Kohleausstiegs auf 2030 von der Koalition zudem nur „idealerweise“ in ihre Planungen einbezogen worden sei. „Idealerweise heißt, es ist an Bedingungen geknüpft – und diese Bedingung ist relativ einfach, es muss gesicherte Leistung vorhanden sein“, so Andreae. Daher erwarte die Branche sozusagen „täglich“ das Ausschreibungs-Design für wasserstofffähige Kraftwerke im Rahmen der Kraftwerksstrategie der Bundesregierung. Andreae führte vor Augen, dass es „Minimum sechs Jahre dauert, bis so ein Gaskraftwerke steht“ – „eins, zwei, drei“ laute die Regel, ein Jahr Planung, zwei Jahre Genehmigung und drei Jahre Bau. „Wir brauchen ein Ausschreibungs-Design, damit die Unternehmen losgehen und zu planen beginnen können – wenn ich 2030 als Zieljahr nehme, dann wird es rechnerisch langsam knapp.“
Barbara Praetorius, Ökonomie-Professorin von der HTW Berlin und seinerzeitige Co-Vorsitzende der Kommission, die den deutschen Kohleausstieg ausformulierte, stieß ins selbe Horn wie Andreae. Auch wenn sie Lindners Ausspruch „sicherlich ein wenig als politisches bargaining“ einstufte, rief sie in Erinnerung, dass bereits von der Kohlekommission angemahnt worden sei, „dass wir neue Kraftwerke brauchen, um die Ausstiegspläne durchzuziehen – Stichwort Kraftwerksstrategie“. Hinzu komme die momentane Situation, „dass wir die Versorgungssicherheit ganz, ganz vorne anstellen müssen, auch im Zusammenhang mit dem Ukraine Krieg“, so Praetorius.
Der für das Kraftwerks-Ausschreibungs- Design zuständige beamtete Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, Philipp Nimmermann, betonte auf dem dena-Podium, sein Haus arbeite „schon länger“ an den Vorgaben. Er bestätigte, dass auch das Versorgungssicherheit-Monitoring der Bundesnetzagentur festgestellt habe, dass die Annahme der Versorgungssicherheit 2030 den Aufbau steuerbarer Leistung einschließe – „Gaskraftwerke bis 21 GW“, wobei die einerseits schon abgesichert seien u.a. etwa über das KWKG oder den Biomasseaufbau. Doch „um das zusätzlich abzusichern, brauchen wir noch mehr steuerbare Leistungen“, so Nimmermann, wobei er betonte, dass das neben Kraftwerken auch etwa flexible Lasten sein könnten.
Nimmermann räumte neben komplexen EU-beihilferechtlichen Fragen – etwa bestimmte neuen Konsultationsvorgaben – ein, es gebe auch noch „regierungsintern die eine oder andere Frage zur Finanzierung, wie man es genau designt, etwa wieviel Stunden die Anlagen gefördert werden sollten“, so der Staatssekretär. Er bekundete indes, man arbeite „intensiv daran, und ich hoffe, dass wir sehr bald eine Lösung präsentieren“. Bis spätestens Weihnachten werde dies gelingen, ließ sich Nimmermann auf Nachfrage ein „jaja“ abringen.
Mit Blick auf das jüngst in der Koalition beschlossene Energiepreis-Entlastungspaket für die Industrie, das letztlich ein Maßnahmenbündel statt des eigentlich vom Bundeswirtschaftsministerium favorisierten konkreten Brückenstrompreises brachte, verteidigte sich Nimmermann, „wir haben jetzt einen guten Kompromiss gefunden – jetzt wieder zu sagen, man hatte sich mehr gewünscht, das ist nicht lauter“. Sicherlich habe man „eine andere Vorstellung“ gehabt, so Nimmermann, der indes zu bedenken gab, dass zum Zeitpunkt, als Habeck seine Vorstellungen präsentierte, „die Strom-Terminkurse für das nächste und übernächste Jahr auf einem ganz anderen Niveau“ gewesen seien – „über 150 Euro für das nächste Jahr“. Man sei aktuell zurückgefallen auf – schwankend – etwa 115 Euro. Ziel sei „sichere, saubere und bezahlbare Energie in Deutschland“ gewesen. Und wenn man nun sämtliche Elemente des Pakets kombiniert betrachte, dann erhalte man „auch schon ohne ‚Super Cap‘ im Jahr 2025 für energieintensive Unternehmen Strompreise von nahe 6 Cent, für die im Bereich Super Cap sogar deutlich darunter“, so Nimmermann (‚Super-Cap‘ bezeichnet die höchstmögliche Begrenzung der Umlagekosten im Rahmen der Besonderen Ausgleichsregelung auf 0,5 Prozent der Bruttowertschöpfung, die Red.). Zudem habe es die „Wünsche gegeben, in die Breite zu gehen, auch für Unternehmen, die vielleicht nicht so stark im internationalen Wettbewerb stehen, aber dennoch belastet werden durch die Stromsteuer“, so Nimmermann.
Aus Branchen-Sicht zeigte sich in dieser Frage Kersten Andreae vom BDEW erleichtert, dass „kein Industriestrompreis kommt, der in die Preisbildung eingreift, das wäre wahrscheinlich die schlechteste Lösung gewesen, weil wir am Ende in die langfristigen Terminmärkte eingegriffen hätten“, so Andreae. Sie regte indes an, „die Stromsteuer über das produzierende Gewerbe hinaus generell zu senken – für die Menschen insgesamt“. Das würde in Zeiten von Sektorkopplung und Elektrifizierung die Wärmepumpen und die Elektromobilität attraktiver machen. Sie räumte indes ein, der Branche sei klar, dass es im Bundeshaushalt bereits „an allen Ecken und Enden knirscht“.
Offene Türen rannte Andreae mit ihrer Ausweitungs-Forderung bei Andreas Jung ein, dem Sprecher für Klimaschutz und Energie der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Über den Wegfall der Stromsteuer für alle sollte dies aus seiner Sicht zudem nicht nur begrenzt für zwei Jahre gelten. Es sei „ja ein Prozess über Jahrzehnte, in dem man diese Verlässlichkeit braucht“, so Jung.
HTW-Wissenschaftlerin Praetorius verwies unterdessen darauf, dass die Strompreisfrage nicht die einzige Unterstützung sei, die es brauche, um Industrie-„Standorte zu retten“. Sie lobte, dass der für die Kostenentlastung aus ihrer Sicht „gangbare Weg nun damit verbunden werde, dass ein Stück weit komplexe und auch teilweise widersprüchlich konstruierte historisch gewachsene Bürokratie abgebaut“ werde. Auf der anderen Seite sei die Politik „gut beraten, den Fokus auch auf andere Dinge zu legen wie Ausbildungsinitiativen oder Fachkräftemangel“, so die Ökonomie-Professorin.
Praetorius ging noch einen Schritt weiter und hob die Diskussion auf die Ebene der „sozialen Frage“, bei der sie zwar anerkannte, dass es „ein ganzes Stück weit gut gelungen“ sei, „sie zu befrieden“. Zu den Themen, die ihr aber noch unter den Nägeln brennen, gehöre vor allem das Klimageld. „Ein Punkt, bei dem ich denke, das muss jetzt einfach kommen“, so Praetorius.
Bei einem Kernstück der angesprochenen sozialen Befriedungs-Leistung, den Energiepreisbremsen, gehe nun allerdings, so betonte aus Branchen-Sicht BDEW-Vertreterin Andreae, „die Verunsicherung weiter“. Im Moment hänge es an der EU-Kommission, die noch keine Entscheidung getroffen habe, ob die Preisbremsen verlängert werden dürfen – etwa bis zum Ende der Heizperiode, „damit die Stabilität noch über die nächsten drei Monate gehalten wird“, so Andreae. Die Frage der Preisbremse gehe zudem „kohärent mit der Mehrwertsteuer“, deren Absenkung u.a. beim Gas eigentlich auch bis März laufen sollte, was jetzt aber zurückgenommen wurde. Nach Andreaes Rechnung drohten damit den Menschen „Preiserhöhungen von 12 Prozentpunkten zwischen Dezember und Januar“ – „ich glaube, dass die Politik sich da einen ziemlichen Hammer einbrockt“, so Andreae.
Parlamentarier Jung äußerte indes Zweifel, ob die Mamut-Aufgabe der Finanzierung der Energie-Transformation „wirklich auf dem privaten Kapitalmarkt“ gelingen könne. „Ich glaube, dass da auch noch mal viel stärker eine staatliche Flankierung her muss“, so Jung, der aber einräumte, unklar sei, wie die aussehen solle, „ohne dass man wieder Subventionstatbestände für alle Ewigkeiten schafft“. Aber die Herausforderungen auf allen Ebenen, insbesondere für die Kommunen, sei groß.
Staatssekretär Nimmermann wiegelte indes ab, selbst wenn man wie er „bei der Schuldenbremse eine differenzierte Meinung“ vertrete, könne „nicht alles der Staat richten – wir zahlen ja schon ganz viel“. Allein die EEG-Förderung belaufe sich auf „10 Milliarden Euro und mehr, jedes Jahr“, was auch den Bürgern und Unternehmen zu Gute komme. Zudem plane die Bundesregierung, über Klimaschutzverträge den Wandel beispielsweise bei der Grundstoffindustrie zu finanzieren. Doch am Ende, so Nimmermann, müsse den ganz überwiegenden Teil der private Kapitalmarkt stemmen. „Und dafür wiederum müssen wir ausländische Investoren von unserer Geschichte überzeugen, für diesen Standort werben und in Vorleistung gehen. Der Staat wird immer flankieren, ich könnte mir auch manchmal ein bisschen mehr vorstellen, aber der private Kapitalmarkt wird das ‚Gros‘ machen.“
Angesprochen auf die Möglichkeit eines „Deutschlandpakt Klima“ – in Anlehnung an die jüngsten Bund-Länder-Beschlüsse zu einer breiteren Themenpalette – betonte CDU-Mann Jung, „selbstverständlich wären wir nicht nur dazu bereit, ich finde, es wäre von hohem Wert, wenn wir so etwas hätten“. Man habe das Klimaziel 2045 und den Pfad dahin noch in der großen Koalition beschlossen. Bislang, so Jung, sei es indes „nicht gelungen, über der Grenzen von Regierung und Opposition hinweg gemeinsam etwas zu bewerkstelligen“ – einen Klima- und Energiekonsens unter Einschluss der Länder und Kommunen. Er sehe „bei allen eine Bereitschaft – und ich finde, was jetzt gelungen ist bei der Ministerpräsidenten-Konferenz, das ist wichtig und richtig und sollte der erste Schritt sein“. Jeder der beteiligten Akteure könne „Dinge lösen – im Planungsverfahren, bei Sonderzuständigkeiten der Gerichte, bei den gesetzlichen Regelungen, ich glaube, das brauchen wir, um das von allen gewünschte Deutschlandtempo zu erreichen“, so Jung.