Nach guten Fortschritten im Ausbau der Windenergie und der PV-Leistung stehe bei der Umsetzung der Energiewende jetzt die Kraftwerksstrategie auf Nummer eins der Prioritätenliste, betonte Andreas Schell, CEO bei EnBW, auf dem Handelsblatt Energiegipfel in Berlin. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hatte zuvor angedeutet, dass eine Koalitionseinigung hierzu unmittelbar zu erwarten sei. Das Land müsse schnell die Diskussionsebene verlassen - dringend notwendig sei es, hier voranzukommen, so Schell. „Wir müssen in den Umsetzungsmodus gehen, damit auch Bestellungen ausgelöst werden können und die Zulieferindustrie hochfahren kann.“
Es sei dringlich, die Strategie müsse auf den Tisch, unterstrich auch RheinEnergie-Chef Andreas Feicht. Was in der Koalitionsvorlage formuliert werde, sei aber noch unklar. „Bei 80 Prozent Erneuerbaren gibt es im Jahr rund 800 Stunden, wo wir disponible Leistungen benötigen“, so Feicht. „Insofern reicht es nicht aus, dass nur die Zusatzkosten für die Wasserstofffähigkeit bezahlt werden.“ Es brauche eine andere Finanzierung der Gaskraftwerke.
Zeitlich sei man bereits aus dem Ruder gelaufen. Denn wenn der Rahmen stehe, müssten noch einige rechtliche, auch beihilferechtliche Hürden genommen werden, bis das Ausschreibungsregime einsetze. „Dann sind wir im Jahr 2025. In fünf Jahren 20 GW an Kraftwerksleistung zu bauen, das halte ich aber für fast unmöglich“, so Feicht weiter.
Rund zwei Drittel des Zubaus der notwendigen wasserstofffähigen Gaskraftwerke sollten sich auf den süddeutschen Raum erstrecken, ein Drittel auf den Norden, hält Hans-Jürgen Brick, CEO beim Übertragungsnetzbetreiber Amprion, für realistisch. „Aber wir haben zwei Themen bis 2030: die Versorgungssicherheit aus dem Blick ausreichender Erzeugung insbesondere bei Dunkelflauten, und wir haben ein Systemproblem, gerade wenn das Netz etwa in windstarken Zeiten überflutet wird.“ Ohne Systemstabilität sei aber keine Versorgungsicherheit zu gewährleisten. Zwar sei man bei der Roadmap Systemstabilität schon weiter als bei der Kraftwerksstrategie, es komme aber darauf an, endlich beide miteinander zu verzahnen, mahnt er an.
Brick fordert auch einen schnellstmöglichen Netzausbau. „Noch fehlt der Gesamtblick. Wir sind immer im 10-Jahres-Rhythmus nach vorne gerobbt, eindimensional und nicht integriert - die Strom- von der Gasseite getrennt. Das können wir so nicht weitermachen.“ Netzausbau bedeute auch Kosteneinsparung, so Brick weiter und nannte ein Beispiel. Im vergangenen Jahr habe sein Unternehmen in Norddeutschland einen kleinen Lückenschluss von 94 Kilometern Länge mit TenneT umgesetzt. „Damit haben wir 500 Millionen Euro Redispatchkosten eingespart.“
Engpässe managen, das bedeutet für den norwegischen Stromanbieter Tibber, der auch in Deutschland mit dynamischen Tarifen Ökostrom anbietet, immer auch Verbrauchsflexibilisierung. „Der Trend, den wir sehen, ist, dass der Ausgleich im Netz nicht mehr nur traditionell über die Erzeugungsseite, sondern mehr auch über die Verbrauchs- und Speicherseite entschieden wird“, sagte Merlin Lauenburg, Managing Director bei Tibber. Aber hier in Deutschland sei noch einiges zu leisten. Etwa mit Aufklärungsarbeit, um die Vorteile aufzuzeigen. Die „deutsche Mentalität ist eher risikoavers“. In Norwegern und Schweden würden sich über 50 Prozent der Kunden für dynamische Tarife entscheiden, hierzulande bisher aber nur in kleinem Rahmen. Und ein weiterer Hemmschuh sei, dass Deutschland absolutes Schlusslicht beim Bestand an Smart Metern sei. Ein Rollout werde die Tarifsituation verändern, ist Lauenburg überzeugt.
Um die Schwankungen in Verbrauch und Erzeugung besser ausgleichen zu können, sollen laut Amprion-Chef Brick weiter auch die Kuppelleitungen für das europäische Verbundnetz ausgebaut werden. Die europäische Integration sei durchaus sinnvoll und steigere die Effizienz des Systems, unterstrich auch Feicht, sieht darin aber gleichzeitig auch ein Problem, und zwar dadurch, dass jeder einzelne Mitgliedsstaat seinen Energiemix festlege mit Technologien, die zu unterschiedlichen Zeiten und Bedingungen ihre Leistung brächten. „Wenn wir also hier viel PV ausbauen, produzieren wir auch viel Strom in Zeiten, wo er nicht viel Wert hat. Wenn wir den dann in den Export drücken müssen, dann werfen wir damit auch Geld raus.“ Andererseits sei der Stromimport zu Zeiten, in denen PV hier wenig einspeise, entsprechend teuer, sodass „wir uns so an dem Kapazitätsaufbau der anderen elektrischen Nachbarn beteiligen. Unseren Kapazitätsaufbau verschenken wir, den der anderen bezahlen wir.“ Das sei „kein guter Case“, so Feicht, zumal alle Länder um Deutschland herum mit Ausnahme Skandinaviens in einer strukturellen Stromlücke stecken würden.